Die Herrlichkeit aller Dinge, Gott und das göttliche Wesen. Europa! Wir kommen, grace à l’Université de Maryland, in Heidelberg an. Es ist Orientierungswoche. Deutschland ist groß, unheimlich und geheimnisvoll. Heidelberg bewölkt, das Gezweig tiefgrün, die Sprache knackig. Der Anfang der Wesen, Gott, das Gemüt, die Materie sind die Weisheit für die Hervorbringung alles Wesens. Unser VW-Bus, schon in den Staaten bestellt, erwartet uns: cremefarben und tiefgrün, geräumig, bereit zur Reise. Die göttliche Natur, das Gemüt, die erschaffene Natur und die Kraft und die Wirkung und die Notwendigkeit und das Ende und die Erneuerung ist der Anfang alles Wesens.
Mein erster Lehrauftrag: die Spangdahlem Air Base, gelegen auf einer römischen Höhensiedlung. Es ist eine halbe Fahrstunde von Trier entfernt (Geburtsort von Karl Marx, einmal eine römische Stadt mit 600.000 Einwohnern, heute kaum mehr als eine Kleinstadt). Wir fahren in einem Tag nach Wittlich, wo wir in unserem Bus übernachten, wir schlafen auf Brettern ein, die wir auf Bücherkisten legen. Morgen wächst die Unsicherheit und zugleich die Heiterkeit: Entschlossen, nicht im „BOQ“ (Offiziersledigenheim) zu logieren, ich setze mich daran, Unterkunft zu finden. Beim Mitnehmen eines Anhalters werde ich, nachdem ich seinen Dialekt entziffert habe, zu einer Wohnung geführt, die einem Freunde seines Cousins gehört. Schon um frühen Nachmittag haben wir uns bei Kohl, einer Kriegswitwe mittleren Alters, ihren zwei Söhnen und einem Untermieter niederlassen.
Sobald ich eingeführt und eingeschrieben an der Air Base bin, hat S. einen neurotischen Ausbruch, sie will nicht in Deutschland bleiben. Was soll ich denn tun? Sie kann die Fremdheit, die Vereinsamung nicht ertragen.
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Phillipsheim, ein Dorf mit 200 Einwohnern („wovon 198 CDU wählen“), sitzt zu halber Strecke auf einem Hügel in paradiesischer Lage. Auf den Wänden einer Bahnhofskneipe Übersichtsaufnahmen der Gegend, als freundliche Geste zugedacht. Eines Abends, nachdem ich Ferien in Frankreich erwähne, nimmt ein betrunkener Stadtbewohner mich zur Seite. Er will unbedingt wissen, wie ich in Gottes Namen die Franzosen dulde.
Das Rütteln, das Heulen, das Knirschen einer Militärkolonne erschüttert die Stille eines frühen Morgens. Beim Manövrieren durch die Stadt schrammen Lastwagen, Jeeps, ungeheure Panzer an Gebäudeecken vorbei. Eines anderen Morgens wecken uns die Stimmen von Schulkindern, unter dem Fenster unseres Schlafzimmers wartend. Sie lesen unseren Nummernschild vor: Die unterirdische Staaten von Amerika.
Zwölf Unterrichtsstunden verschütten mich: Englisch-Kurse für 40-jährige, analphabetischen Feldwebel, 18-jährige Abhängige mit Pickelgesichtern, acht Wochen lang. Aber ehe wir uns versehen sind wir wieder unterwegs, das zweite Trimester wird zwischen Darmstadt und Frankfurt (Rhein-Main AFP) geteilt. Nach mehreren, mit Vorurteilen behafteten Wohnungsbesichtigungen in Darmstadt, nach einer verschneiten Nacht auf einem Parkplatz eines US-Armee-Stützpunkts, bekommen wir endlich eine Wohnung in Sachsenhausen (siehe „West and East“). Die Knochenarbeit setzt sich fort mit „Einführung in die Literatur“, allerdings diesmal durchbrochen von Ausflügen nach Frankfurt, Zoobesuchen, eleganten Buchhandlungen (Ausgaben von Goethe, Rilke). Ich verschlinge Werther, beginne Dichtung und Wahrheit, sauge die melancholische Landschaft, die sinnenfreudigen Wohnungen, den Verkehr, die Leute, die Pflastersteine auf.
Zurückkehrend, nach dem Unterricht in Darmstadt, bin ich beim Autofahren von einer Laserstrahl erblindet worden. Und da alles zuvor unbegrenzt und unbereitet war, da wurde das Leichte zu der Höhe abgesondert, und das Schwere wurde auf dem feuchten Sand fest gegründet, und das Feuer umringte dies Alles, und nachdem es hängend war, wurde es von dem Geiste getragen.
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Aus der Trübheit Frankfurts und in die Lichterstadt, mit einem Zwischenspiel bei Leiden, wo wir die Walshes besuchen: Stadtrundgang, Schmeichelei von John, mein Ohr empfängt seine aufgestaute Beobachtungen. Danach, durch das spätnachmittagliche Flachland, kommen wir am place du Palais-Bourbon um Mitternacht an. Ich gehe in unsere modische Wohnung, lade unser Gepäck ab und mache mich zu Fuß auf den Weg. Die Seine, überschwemmend, zügellos, erscheint gelb im Mondlicht.
Die Götter aber brachten einen jeden durch seine eigene Kraft hervor, was ihnen verordnet war, und da wurden vierfüßige, kriechende, schwimmende und fliegende Tiere, auch alle fruchtbaren Samen, Gras, Blumen und grünendes Kraut, so trugen die Samen der Wiedergeburt in ihnen selbst.
Schon wieder arbeite ich zu schwer – wie ich es muss: die Ilias, attische Tragödien, Vergil, Dante. Pause. Dann acht weitere Wochen: Shakespeare, Molière, Swift, Voltaire, Goethe, Dostojewski. Acht Stunden Korrekturlesen, Vorbereitungen, danach der Kampf durch den Stau nach St. Germain, nach Garches für drei Lehrstunden.
Am Wochenende liege ich im Bett, schwach, bewegungslos.
Nichts nehme ich auf, nichts schreibe ich, aber Pariser Luft füllt meine Lungen. Ich verschlinge Chartres, den Louvre, Le Monde.
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Und der Himmel wurde sichtbar in sieben Kreisen, und die Götter erschienen mit allen ihren Zeichen in Sternen-Gestalt, und das Gestirn wurde geteilt und gezählt mit den Regenten, die in ihnen waren, und der Umlauf wurde mit der Luft umschlossen und mit einem zirkularischen Lauf durch den göttlichen Geist getragen.
Semesterende, zurück nach Heidelberg, oberster Bundesrichter Warren hielt die Rede zur Abschlussfeier. Sein Thema: das Weltgesetz. Wir lernen Marvin Watts wieder kennen und seine schöne japanische Braut. Dann wieder nach Paris und in die Comédie Française—Karten kosten 1 Franc 50 (oder 60 US Cent). Einen Monat lang lese ich nichts außer Racine, Molière, Marivaux, Ionesco, ich erlebe, unter vögelähnlichen französischen Schülern, tadellose Matineen. Dann fahren wir in die Bretagne, wo Marianne Bleuzen, Köchin bei den Eltern von S. in ihrer New Yorker Wohnung, uns ihren Alterssitz zum Sommer geliehen hat. Kurzer Aufenthalt in Le Mans zum Besuch der herben Kathedrale. Und weiter geht’s durch die üppige Landschaft, durch die kleinstadtsichen Rennes, Rostrenen, Rouduallec, bis zu den herzlichen Grüßen von Mariannes Neffe, Mme Solliec. Empfangen von der ganzen Familie Bleuzen, gemütlich und zurückhaltend zugleich, fahren wir aufs Land, die Reiserouten unserer Landkarten werden dicker und dicker.
Genesend schreibe ich Sonette an Paris, Ansichtskarten sind meine Muse.
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Der Sommer ist dahin, wir fahren durch Paris bis nach Rheinland-Pfalz, um ein zweites Jahr in Europe anzufangen. Mein erster Lehrauftrag: Ramstein Air Base, nähe Kaiserslautern („K-Town“ im Jargon). Hier ist das Land Gottes, kriegsverwüstet, aber heute erscheint es unschuldig. Wochenends schauen amerikanische Soldaten und deutsche Beamte auf der Air-Force Football-Mannschaften zu, sie stehen am Spielfeldrand und bewundern, wie sie es untereinander ausfechten. Schwarze Cheerleaders skandieren: Give me an R; R! Give me an A; A! Give me an M; M! Give me an S; S! Give me a T; T! Give me an E; E! Give me an I; I! Give me an N; N! What does it spell? Ram-stine! What does it spell? Ram-stine! What does it spell? RAM-STINE! Meine Studenten sind Flyboys. Sie liegen im Klassenzimmer herum, noch in ihren leuchtorangen Fliegeranzüge.
Hermes: Ist solches denn was Göttliches, so ist es ein Wesen, aber ist es Gott selber, so ist es über das Wesen hinaus. Wieder wohnen S. und ich bei Deutschen, “bei Müller”, die ganze Familie scheint unter Depression zu leiden. Sonst ist es auch begreiflich oder verständlich. Während unseres Besuchs hat Frau Müller eine Hysterektomie. Ihr Bett, nach dem Eingriff eines primitiven Krankenhauses, ist voller Blut. Denn Gott ist das Erste, das verständlich ist, nicht für sich selbst, sondern für uns, denn was verständlich ist, das wird dem, der es verstehet, durch den Sinn beigebracht. Herr Müllers Arm tut ihm weh, dieser Zustand schließt Arbeit aus, oder zumindest er befreit ihn davon. Darum ist Gott durch sich selbst nicht verständlich, weil er nicht unterschieden ist von dem, was verstanden wird. Im Laufe unseres Aufenthalts bauen Herr Müller und sein Sohn eine Garage (darin stellen sie das Auto ab und sparen dabei an Autoversicherung). Die Miete steigt, nachdem wir einziehen. Ich beklage mich nicht.
Da meine Kurse schon vorbereitet sind, läuft alles in diesem Jahr einfacher. Zweimal pro Woche treffen S. und ich einen Kollegen und seine Frau, Hippie-Akademiker, in der Bierstube.
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Nach acht Wochen in Ramstein erlebe ich noch einen Umzug, der Auftrag ist zwischen Frankfurt und Wiesbaden geteilt. Spätherbst in Deutschland, am Stadtrand Frankfurts, ich stürze aus einer vollgestopften Brecht-mäßigen Stube in eine nieselige Nacht. Ein Camping-Platz, nein, ein Roma-Lager mit Lagerfeuer am Straßenrand. Als wir den Camping-Platz finden und endlich einschlafen, werden wir sofort von der Polizei aufgeweckt. Sie suchen nach durchreisenden Kriminellen. Aber in Ansehung unser ist er verschieden, darum wird er von uns verstanden.
Unfähig, eine Wohnung zu finden, die unserer wirtschaftlichen Situation entspricht, lassen wir uns endlich nieder in dem Armee-Hotel in Wiesbaden. Wenn demnach der Platz verständlich ist, so ist solcher nicht Gott, sondern ein Platz. Wiesbaden ist geräumig, raffiniert, ein Kurort. Ist er aber Gott, so ist es nicht wie ein Platz, sondern als eine befassende Kraft. Zwischen Korrekturlektüren gehe ich in den umgebenden, nebligen Vorort-Straßen spazieren: riesige abgelegene Wohnhäuser, umzäunt und eingehegt, polierte Messingschilder zeigen die Namen von Ärzten und Anwälten. Daher wird Alles, was bewegt wird, solches nicht bewegt in etwas, das selbst bewegt wird, sondern in etwas, welches fest steht. Im Stadtzentrum die Bäder, noch im bunten Treiben, aber mit dem Hauch von vergangenen Zeiten.
Unsere Bleibe ist zeitweise von der lachhaften Anwesenheit eines provisorischen Lehrers aus Maryland belebt. Er wurde von Rom abgeholt, wo er als Expat faulenzt. Mit einem Pork Pie Hut und einer Akzent aus Boston macht er Geschäfte auf dem Schwarzmarkt. Freunde reisen aus Paris, Mailand und Berlin an, sie verbringen hier eine heimliche Nacht. Genial, neurotisch, er ahmt die Reden amerikanischer Präsidenten nach, besäuft sich, nutzt uns aus, wird krank. In der Zwischenzeit setzt S. mit den Deutschstunden fort, beschäftigt sich mit Einkaufen, Museumsbesuchen, Lesen.
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